Samstag, 3. Februar 2018

Meine erste Liebe: "Lieber Marcel" - Teil 3/4



„Ja, schon,“ und mein Herz zerbrach in hunderttausend winzige Splitter. Mir kam es vor, als halle selbst der entfernte Wald von dem Geräusch meines gebrochenen Herzens wider. „Wenn du das auch willst...“
Ich stand – das war ja so typisch für mich – auf der Leitung. Meine Hand hatte sich von der seinen zurückgezogen, ich war unmerklich einen Schritt von ihm gewichen, atmete hektisch und bekam kaum Luft. Dann erst, nach und nach, setzte ich alles in den Zusammenhang. War das etwa...? Hatte er mich etwa...? Wollte er vielleicht mit mir...? Mein Herz ließ es kaum zu, das ich nach Luft schnappen konnte, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Mit dem letzten Atem, der mir in den Lungen verblieben zu sein schien, hauchte ich ein „ja“, und augenblicklich ergriff ich seine Hand, voller Leidenschaft, meine Augen leuchteten wie die Sonne, heiß fühlte sich mein Gesicht an. Und jetzt war es an Marcel – und das hätte ich nicht für möglich gehalten – ein wenig zu erröten, er lächelte, bezaubernd, schüchtern, und strahlte mich kurz darauf glücklich an.
„Also möchtest du mit mir gehen, ja?“ fragte er mich, ganz leise, die Worte mehr hauchend als sprechend.
Liebe Mädels der 80er Jahre, wenn das nicht die allesentscheidende Frage war! Diese Frage beinhaltete so ziemlich alles, was das Mädchenherz sich so sehnlich erträumte: schamlos Händchenhalten, in verborgenen Ecken und Winkeln hemmungslos knutschen, sich süße Worte ins Ohr wispern, und vor allem, und das war überhaupt
wohl der Hammer an der Sache: seinen Freundinnen erzählen können, das man mit jemandem geht!
Doch so weit waren wir beide noch nicht, wir waren uns gerade erst begegnet, und auch wenn die Chemie wohl mehr als zu stimmen schien, standen wir noch am Anfang unserer vorpubertären Beziehung.
Wir hielten auf unserem, an diesem Tag mehr glücklich schweigend verlaufendem, Spaziergang immer wieder die Hand des anderen. Manches Mal blieben wir stehen, sahen uns eine Weile in die Augen, und wenn das Kribbeln zu stark wurde, drückten wir uns die Hände. Doch mehr als ein flüchtiges Berühren der Wange war nicht drin. Aber es verhieß schon so einiges.
Der Tag ging zur Neige, ich begann zu frieren wie ein Schneider, denn die Kühle, die der Wald gespeichert hatte, war ich bei weitem nicht gewohnt. Marcel brachte mich zu meiner Tante nach Hause, und als wir vor dem Gartentor standen, uns bei den Händen hielten und einander in den Augen zu versinken schienen, kamen sich unsere Köpfe immer näher und näher. Bis Prinz, der Collie meines Onkels, bellend vor Freude am Gatter hochsprang und uns jäh unterbrach. Sekunden später stand mein Onkel in der Tür und winkte nach mir, das es Abendbrot gäbe und ich reinkommen solle.
Ich rollte mit den Augen, und der wohl romantischste Augenblick meiner Kindheit war einfach dahin.
„Dann schlaf schön und träum süß,“ sagte Marcel.
Ich wollte ihm aufeinmal tausend Fragen stellen, wollte fragen, wann wir uns wiedersehen würden, doch schon stand mein Onkel am Gartentürchen, Marcels Fahrrad neben sich, wünschte lächelnd einen „guten Abend“ und fügte rasch hinzu:
„So, und jetzt mal rein.“
Marcel schwang sich auf sein Rad, nicht wirklich gewillt, sogleich in die Pedale zu hauen, und ich fragte, leise piepsend wie eine Maus:
„Kann Marcel nicht noch eine Stulle mitessen?“
Hui, ich hatte mir gar nicht zugetraut, so forsch vorzugehen. Mein Onkel sagte lachend:
„Ich frag mal deine Tante,“ und verschwand wieder im Haus.
Ich ging rasch auf Marcel zu, der auf dem Rad sitzen geblieben war, die Beine fest auf den Boden gestemmt.
Ganz schnell berührten sich nochmal unsere Hände, kitzelten sich unsere Fingerspitzen, ehe er sagte:
„Bei uns gibt’s jetzt auch gleich Abendbrot.“
Aber ich wollte nicht, das dieser Augenblick zuende geht. Ich konnte ihn nicht so in aller Eile gehen lassen! Panik stieg in mir auf, ich dachte kurz, er wollte vielleicht nach Hause, nicht mehr bei mir sein... Dann nickte er mit dem Kopf Richtung Eingangstür. Mein Onkel winkte ungeduldig:
„Dann kommt jetzt rein!“
Wir grinsten uns an. Marcel stieg vom Rad, schob es hinter den Gartenzaun, und wir hatten Gelegenheit, noch eine Schnitte zusammen zu essen. Wichtig war mir, das ich mich in aller Ruhe von ihm verabschieden konnte. Kurz nach dem Abendbrot wurde der Fernseher eingeschaltet, aber es war noch nicht ganz dunkel draußen. Klaro, war ja auch Sommer. Und so nutzte ich die Gunst der Stunde und fragte ganz frank und frei, grade heraus:
„Kann ich Marcel noch ein Stück bringen?“
Ich wurde zwar puterrot dabei, aber das war mir jetzt auch egal, jede Sekunde zählte, die wir alleine sein konnten.
„Findest du denn alleine zurück, oder soll ich euch fahren?“ fragte Onkel Jürgen, ein bißchen unwirsch jetzt schon.
„Ich finde schon zurück,“ sagte ich und nickte bestätigend mit dem Kopf dabei.
„Aber nit den ganzen Weg, gell!“ sagte er, mit freundlicher Strenge. Immerhin waren wir hier nah, aber auch ganz nah, am Wald, und so ein Stadtkind, das kann sich schnell verlaufen. Naja, nicht jedes Stadtkind, aber ich. Eigentlich traute ich mich nicht wirklich, denn meine Orientierung war gleich null, aber ich hatte einen Plan im Kopf, und wichtig war nur, nochmal rauszukommen, und ganz allein mit meinem Freund zu sein.
Und so gingen wir los. Marcel schob sein Fahrrad nur, auch wenn er mir anbot, darauf zu fahren. Doch ich wollte die Zeit vergessen, jede Sekunde auskosten und in die Länge ziehen. Er schien es nicht anders zu empfinden, und so liefen wir ein ganzes Stück, über alles mögliche plappernd, als wollten wir alle Gespräche nachholen, die wir bei unserem nachmittäglichen Spaziergang vergessen hatten. Als wir vor seinem Haus ankamen, war es stockfinster. Und in diesem Moment ergriff die Panik von mir Besitz, denn wenn ich mich schon am helllichten Tag nicht gut orientieren konnte, so in der Nacht ganz gewiss nicht mehr. Zu Beginn war mein Plan gewesen, das ich genau das einsetzen würde, damit wir nur ein Stück gemeinsam Richtung Marcels Haus liefen, und er mich dann wieder ein Stückchen zurückbringen sollte. Doch das ging gründlich nach hinten los!
„Was ist denn los? Hast du Angst im Dunklen?“ fragte Marcel erstaunt.
Ich konnte nicht mehr klar denken, denn auf den Weg hatte ich nicht geachtet, und so nickte ich nur hastig.
„Das ist doch kein Problem!“ sagte er, mich anlächelnd. „Ich bring dich wieder zurück. Ich bin doch dann schnell hier, mit dem Rad.“
„So hatte ich mir das auch gedacht, aber jetzt hab' ich wirklich Angst, das ich den Weg nicht mehr finde...“ gestand ich ihm.
Doch statt sauer auf mich zu sein, grinste er nur. Und dann, ganz klein und kurz nur, huschte ein verhaltener Kuss über meine Lippen. Und in diesem Augenblick wusste ich, das Marcel der Richtige war! Ich war ja so überglücklich! Alle Angst war von mir abgefallen, ich dachte nicht an Zeit und Raum, mir war egal, was mein Onkel oder meine Tante sagen würden, wenn ich viel zu spät wieder nach Hause kam... damit hatte ich niemals gerechnet, so sehr ich es mir gewünscht hatte.

Mein Onkel war noch auf, als ich dann endlich daheim ankam. Marcel hatte mich, gentlemenlike, zurück nach Hause gebracht, und wir hatten uns ganz gemütlich und kuschelig verabschiedet. Ohne küssen allerdings, aber trotzdem mehr als gelungen, wie ich zu meiner vollen Zufriedenheit feststellte. Jürgen war ein bißchen aufgebracht, er schimpfte, das ich das nicht mehr machen solle, allein im Dunkeln hier rumzulaufen, doch als ich ihm sagte, das Marcel mich wieder heim gebracht hatte, verrauchte seine Wut rasch. Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen – hauptsächlich aber, um in meine  Traumwelt der Verliebtheit reisen zu können – ging ich direkt auf mein Zimmer, machte mich bettfertig und legte mich hin. Heute war mir nicht mal danach, noch einen Gruselfilm zu schauen, ich wollte nur vor mich hinträumen.

Einige Tage vergingen, und wie ich bereits erwähnte, war es damals nicht so, das wir Kinder untereinander telefonierten. Die Erwachsenen erledigten das, wenn wir mit einem Freund oder einer Freundin etwas unternehmen wollten. Das war normal, denn telefonieren war nichts für Kinder. Fertig, aus und basta. Und so hibbelte ich, ganz kribbelig vor lauter Verliebtheit, dem Tag entgegen, an dem ich Marcel endlich wiedersehen würde. Doch je mehr Stunden ins Land strichen, ohne etwas von ihm zu hören bzw. zu sehen – denn er hätte ja einfach mit dem Rad vorbeikommen können – umso größer wurden meine Zweifel, ob er es ehrlich mit mir meinte. Nicht, das ich tatsächlich an ihm oder seinen Gefühlen zweifelte, aber ich war unsicher. Mir selbst nicht sicher genug, das ich wirklich daran glauben konnte, das so ein toller Junge mit mir zusammen sein wollte. Und so kaute ich auf meiner Unterlippe, zählte meine Finger und wurde immer unruhiger und unausgeglichener.
Endlich, endlich kam der Tag, an dem Elfi mich fragte, ob wir nicht Marcel und seine Schwester fürs Schwimmbad abholen wollten. Doch bis dahin hatte sich meine Unsicherheit ins nahezu Unermessliche gesteigert, und als wir nebeneinander auf dem Rücksitz im Auto hockten, fühlte es sich für mich an, als müssten wir wieder von vorn beginnen, als wäre all das an diesem wunderschönen Tag, was wir getan und gefühlt, was wir gesprochen hatten, wieder hinfällig. Nachdem ich dann jedoch feststellte, das er gar nicht so empfand – denn er hatte ja, wie ich schon sagte, kein bißchen der Schüchternheit seiner Schwester – wurde ich endlich wieder lockerer.

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